Hier am Rande

Am Rande

Hier am Rande der Stadt leben die Menschen, die am Rande der Gesellschaft gestrandet sind. Hier auf einem verlassenen Grundstück haben sie sich eingefunden. Hier haben sie einander gefunden. Von ihrer Existenz weiß die Welt draußen nichts und sie will es wohl auch nicht wissen.

Anna ist eine von ihnen. Sie ist so etwas wie die Dorfälteste. Eine Art Anführerin. Zumindest in diesem Kreis. Wenn sie in der anderen Welt wahrgenommen wird, ist sie die Frau, die mit einem Einkaufswagen voller Krempel und Leergut durch die Straßen klappert, oder Passanten um ein paar Groschen anschnorrt. Die Umstellung auf den Euro hat bei Anna sprachlich und gedanklich nicht stattgefunden.

Familie

Wie auch die Anderen ihrer sogenannten Familie, Probleme mit dem Vergehen der Zeit und den damit verbundenen Entwicklungen und Veränderungen hat. Junior zum Beispiel würde eigentlich zu den Internetkids gehören, hat aber noch nie einen Computer gesehen, wie er auch keine Schule gesehen hat. Er war der Jüngste von ihnen, obwohl niemand, auch er selbst nicht, sein Alter kannte.

Er war einfach eines Tages da. Klein, verlumpt, etwa acht Jahre alt. Anna und ihr Freund nahmen ihn auf. Auf die Idee, ihn zur Polizei zu bringen, damit er zu seinen Eltern zurückgebracht würde, kamen sie gar nicht. Ihr tiefes Misstrauen gegen Behörden bewahrte den Jungen vermutlich vor einem noch schlimmeren Schicksal. Lange Zeit sprach er kein Wort, sie waren davon ausgegangen, dass er stumm war.

Als er bereits beinahe ein Jahr bei ihnen war, lief ihnen ein verwilderter Köter zu. So wie ihnen eben Menschen und Tiere in Not seit Jahren zuliefen. Er war einfach da. Stand, wie zuvor Junior, vor der Tür ihres alten Wohnwagens und blieb. Junior nahm den Hund in die Arme und erzählte, zunächst stockend, dann immer schneller von seinem kurzen qualvollen Leben bei seinen Eltern. Die Erwachsenen, die selbst so vieles erlebt hatten, hörten entsetzt zu, wie dieser Junge seine Geschichte dem verlausten Hund erzählte.

Einigen standen Tränen in den Augen, Kurt wandte sich ab und hieb immer wieder mit der Faust gegen eine Birke. Er konnte mit Emotionen schlecht umgehen, weswegen er die Liebe seines Lebens getötet hatte. Anna fing an Keksteig anzurühren, um den Kleinen zu verwöhnen, soweit es ihr möglich war. Diese Gestrandeten konnten nicht begreifen, wie Menschen ihrem eigenen Kind, überhaupt einem Kind, so etwas antun konnten. Als der Junge fertig erzählt hatte, sah er ganz erstaunt auf und wurde sich der Menschen um ihn herum nun erst gewahr. Er hatte den Hund als Leidensgenossen erkannt und nur ihm hatte er seine Geschichte erzählt.

Hund und Kind wurden unzertrennlich. Anna backte ihnen Kekse, wann immer es möglich war. Also, wenn sie genug Leergut gesammelt hatte, um die Zutaten zu kaufen. Im Herbst sammelten einige der Frauen Nüsse im nahe gelegenen Wald. Auch Pilze gab es dann im Überfluss. Überhaupt lebte die kleine Kolonie gesünder als der Durchschnittsöko. Sie sammelten Beeren und Pilze, bauten Tomaten und Kartoffeln zwischen den Wohnwagen und Hütten an. Sie bauten natürlich auch einige Pflanzen an, die nicht legal waren. Aber die immerhin ohne Spritzmittel oder chemische Düngemittel.

Anna

Anna war eine gebildete Frau, sie hatte in Russland, wo sie aufgewachsen war, Philosophie studiert. Dann kam ein Mann, der zu schnell auch wieder ging. Aber es kam ein neuer Mann, sie liebte ihn mehr als ihre Heimat und so folgte sie ihm, als er als jüdischer Aussiedler in die DDR ging. Auch er ging bald wieder fort von ihr. Anna konnte die Sprache dieses neuen Staates kaum verstehen und war völlig allein und auf sich gestellt.

Sie war keine Jüdin und so hatte sie eigentlich gar nicht einreisen dürfen, aber nach langen Sitzungen bei Behörden und Beamten, die von der damals noch jungen und schönen Frau natürlich eine Gefälligkeit erwarteten und lustlos auch erhielten, bekam Anna einen Pass. Damit war sie jedoch gefangen in diesem fremden Land, das so seltsam freundlich und hinterhältig in einem war. Ihr Deutsch wurde besser und besser mit jedem Mann, der ihr ein paar Mark auf den schäbigen Nachtisch legte. So lebte Anna mühsam vor sich hin, bis plötzlich die Wende eintrat.

Die Grenzen wurden geöffnet und die Männer, die vorher das Exotische an Anna schätzten, suchten jetzt an wirklich exotischen Orten nach neuen Abenteuern. Anna fiel wieder einmal durch alle Raster, sie verlor ihre Wohnung, lange nach ihren Hoffnungen. Sie wanderte durch die Stadt, die nun keine geteilte Stadt mehr war. Nun war es Anna, die geteilt war. In ihr Heimweh nach einem Land, das so wie sie sich daran erinnerte, nicht mehr existierte und in ihre Sehnsucht nach einem Berlin, dass es nie gegeben hatte.

Tag für Tag lebte Anna von der Hand in den Mund, fand einen Einkaufswagen und wanderte mit ihren wenigen Habseligkeiten weiter durch die Stadt. Eine Stadt, die voller Hoffnung und mitten im Neuanfang pulsierte und zusammen wuchs. Anna trieb es immer weiter an den Rand, jeden Tag etwas mehr, etwas weiter. Sie war nicht die Erste, die in der verlassenen Datschenkolonie eintraf. Viele kamen und gingen hier wieder. Die, die genug Energie und Willen hatten, in ein geregeltes alltägliches Dasein. Die Anderen, die nicht blieben, versanken vollständig in Drogen und dem endgültigen Abgrund.

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